| Vonder Autonomie des Tschuschenpunktes | |
| Kulturrisse Dezember 97 | |
Kaum jemand von uns hat als Kind diese Erfahrung nicht gemacht: Manbesucht mit den Eltern die Tante. Sie steht an der Tür, streckt dieHände aus und stürzt sich - natürlich! - auf dich. Es istkein Schutz mehr hinter dem Rock der Mama zu finden. Man spürt aufeinmal den festen Druck ihrer Hände und verliert bald den Boden unterden Füßen. Wir gehen hoch! Zum Kuß gehoben. Man versuchtnoch im letzten Moment den Kopf wegzudrehen, aber es ist schon zu spät. Wir benehmen uns schön, wie es sich gehört. Widerstandist zwar erlaubt, aber nur symbolisch. Jederzeit muß schon das Neinauch als Ja verständlich werden. Es hilft also nichts mehr und wirbekommen ihn - den lauten, häßlich nassen Kuß von der liebenTante. Wir haben es bereits gelernt, wie man nicht nur die Schläge,sondern auch die Küsse des Lebens stoisch annimmt und am richtigenOrt und zum richtigen Zeitpunkt auch opportunistisch mitspielt. Das machtdas Leben zwar nicht einfacher, aber jedenfalls süßer. Die Süßigkeitenwaren es damals, die das Trauma des unerwünschten Kusses schnell zumVergessen gebracht haben. Nur, an diese Süßigkeiten erinnernwir uns heute nicht mehr. Aber jedesmal wenn wir etwas getan haben, waswir nicht tun wollten, spüren wir erneut jenen nassen säuerlichstinkenden Fleck eines unerwünschten Kusses an den Wangen. Ich entschuldige mich bei meiner Tante, daß ich die Erinnerungan ihren Kuß zu gesellschaftlichen Zwecken mißbrauche. Das Bildsollte uns für die Situation sensibilisieren, in welcher sich ein ausländischerImmigrant befindet wenn er an den Toren des heutigen Europas die ausgestrecktenHände einer Multikulti-Willkommenheit erblickt. In diese Umarmung unkritischzu fallen, wäre für ihn sicherlich der schlimmste Weg nach Europa. Mark Terkessidis, der junge deutsche Theoretiker der gegenwärtigenKulturkämpfe, hat auf eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Multikulturalistenund Neorasissten hingewiesen. Beide wirken zusammen als eine Art europäischesImmunsystem. Während die Multikulturalisten die Aufnahmebedingungenfür die innere Assimilation des Anderen kontrollieren - sie erkennennur solche Differenzen, die genießbar sind, und alle andere Kulturunterschiede,die sie als zu gefährlich für das liberaldemokratische Systemfinden, schieben sie ins Getto eines privaten Lebensstils ab - organisierendie Neorassisten die Verteidigung nach außen: Der kulturell Anderesoll fern bleiben. Die Multikultis hegemonisieren die zivilgesellschaftliche Szene,während die Neorassisten sich um den Staat sorgen. Das sich vereinendeEuropa verwirklicht auf diese Weise ein klassisches Ideal: mens sana incorpore sano. Der gesunde Multikulti-Geist in einem starken neorassistischenKörper. Die perfekte Zusammenarbeit läßt sich auch von einer Zukunftsperspektiveaus verstehen. Sind es nicht die altlinken Multikultis, die die entsprechendesoftware für das gemütliche Leben der gegenwärtigen liberalkapitalistischenGesellschaft liefern, und die neurechten Neorassisten, die die notwendigehardware dazu bereitstellen? Daß dabei nicht alles reibungslos abläuft,muß nicht zusätzlich betont werden. Nur, die linke Gesellschaftskritikhat schon den Tiefpunkt ihrer Dekadenz erreicht: der lange Marsch durchdie Institutionen ist offensichtlich bei der interface-Frage steckengeblieben.Es geht nur noch darum, den multinationalen Kapitalismus im Sinne der Ergonomiezu gestalten. Das System soll kinderleicht zu bedienen sein und die äußerstenGrenzen seiner Bequemlichkeit erreicht werden. Im Westen verhält man sich dem kapitalistischen System gegenüberwie ein russischer Schriftleiter, der über seine Ehefrau gesagt habensollte: Nach einer langjährigen Ehe sei sie wie ein gut ausgetragenerSchuh geworden. Man spüre sie nicht mehr. Der wirklich Andere des Systems ist der Andere der dritten Welt,des osteuropäischen Chaos, des Balkans, derjenige, der an die geschlosseneTore des neuen europäischen Limes schlägt. Er bekommt den globalenKapitalismus im vollen Ausmaß zu spüren und leidet unerträglichan ihm. Es scheint, Multikulturalisten und Neorassisten hätten das Verhältniszu diesem Anderen vollkommen unter ihrer Kontrolle. Die Beiden haben, wieTerkessidis betont, "das Feld abgesteckt, auf dem das Verhältniszum Anderen spielt." Diesem Anderen gegenüber zeigen sie ihr schönstesGesicht. "Beide Diskurse," so Terkessidis, "suggerieren ununterbrochen,ihnen ginge es hauptsächlich um das Wohlergehen der Anderen."Wie erlebt das aber dieser Andere? Nehmen wir einen Schwarzen, der nach einer Gartenparty in irgendeinerMetropole eines europäischen Landes in die U-Bahn einsteigt. Ihm schwindeltnoch (es dürfte auch eine sie sein, das Geschlecht ist hier nicht entscheidend)von der Bewunderung, die ihn auf der Party umkreiste. Besonders gern hatteer die Zuneigung des weiblichen Teils der Multikulti-Partygesellschaft gehabt.Kein Wunder, er sieht so aus, als wäre er gerade aus einem MTV-Videoclipin die Wirklichkeit ausgestiegen. Gleichzeitig aber spürt er die Angst von der zu erwartenden,strengen Polizeikontrolle. Dort good girls and hier bad guys? Keinesfalls!Eine mögliche Mißhandlung durch die Polizei, vielleicht sogarEinsperrung und Abschiebung, das alles ist nicht das Schlimmste, was ihmpassieren kann. Das Schlimmste ist nämlich schon passiert. Er ist bereitseingesperrt worden und zwar in den Phantasmen derjenigen, die ihn zum Objektihres partikulären Genießens gemacht haben. Sein wahres Elendzeigt sich erst vor diesem phantasmatischen Hintergrund, der ihn anscheinendbewundert und unterstützt, tatsächlich aber ihn seiner Subjektivitätberaubt. Wie soll er auf diese Herausforderung reagieren? Womit sollte essich identifizieren, um seine Subjektivität zurückzugewinnen? Erinnern wir uns an die berühmteste Horrorszene aller amerikanischenMänner, an den Lorena-Bobbitt-case, an den Fall jener Frau, die ihremMann den Schwanz abgeschnitten hat. Bekannterweise ist sie durch diesenGewaltakt aus einer Gefangenschaft ausgebrochen, in welcher sie von ihremMann zwar enorm begehrt wurde, aber nur als der bloße Gegenstand seinessexuellen Genießens, als eines jeder Subjektivität beraubtesObjekt seiner Machtausübung. Der Fall Bobbitt hat die amerikanischeÖffentlichkeit dermaßen erschüttert, weil in ihm symbolischan die Urszene des sozialen Widerstands aller Unterdrückten erinnertwurde, an jenes feministische Insistieren, daß ein Nein weder "vielleicht"noch "ja", sondern gerade Nein heißt. Diese Szene in ihrem radikalen Anspruch auf soziale Gerechtigkeit,in ihrer geradezu universalen Forderung nach Anerkennung weitgehend übersteigtjede geschlechtsbedingte politisch-ideologische Partikularität. Deswegenbietet sie auch unserem Schwarzen jene Identifikationsmöglichkeit,durch welche er seine Subjektivität zurückgewinnen kann, ohnesich deswegen gleichzeitig ausschließen zu lassen. Es ist nämlichnicht die drohende Polizei, die in ihm dieses Gefühl der Erniedrigungverursacht. Es ist eher etwas säuerlich stinkendes, was er an den Wangenspürt - der nasse Fleck jenes Multikulti-Kusses, der ihn jetzt an dasnicht gesagte "nein", an sein hilfloses Nachgeben einer lusthungrigenMacht gegenüber erinnert. Es klingt paradox, aber unserem Schwarzen wäre es viel bessergegangen, hätten seine weiße "once-black-never-back"Multikulti-Frauenfans in ihm einen Fundamentalisten erkannt, der droht,ihnen ihre Klitoris zu beschneiden. In dem Falle wäre er gerade einemursprünglich feministischen Motiv viel näher gekommen und hätteeinen Punkt der selbstbewußten, subjektiveren Autonomie erreicht -den echten Tschuschenpunkt sozusagen. Erst von dem Punkt aus - und nicht von der in ihrer Selbstgefälligkeitaufgeblasenen Multikulti-Ideologie - eröffnet sich der Blick auf dieWelt der sozial bedingten kulturellen Antagonismen, die nicht mehr ertragwnwerden kann weil sie geändert werden muß.
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