| Triumphdes Kitsches (Serbien im westlichen Blick) | |
| Transit 13, Wien 1997 | |
Madame Rafael, eine Gestalt aus Milan Kunderas Erzählung "DieEngel" 1hat aus einer Illustrierten eine Fotografie ausgeschnitten. Abgebildet sindPolizisten in einer Reihe, die schwer bewaffnet für Strassenkämpfebestens geröstet sind. Vor ihnen tanzt eine Schar junger Menschen imKreis. Auf der einen Seite, so Kundera, "die Polizei in ihrer unechten(auferlegten, befohlenen) Einheit der Reihe, auf der anderen die jungenLeute in ihrer wirklichen (aufrichtigen und organischen) Einheit des Kreises."Frau Rafael, eine Literaturprofessorin (irgendwo aus dem Westen), schwärmtschon ihr ganzes Leben davon, in einem solchen Kreis tanzen zu können.Anfangs suchte sie ihn "in der Methodistenkirche (...), dann in derkommunistischen Partei, dann in einer trozkistischen Partei (...), dannim Kampf gegen die Abtreibung (...), dann im Kampf für die Legalisierungder Abtreibung (...), sie hat den Kreis bei den Marxisten gesucht, bei denPsychoanalytikern, bei den Strukturalisten, bei Lenin, im Zen-Buddhismus,bei Mao Tse Tung, unter den Anhängern des Yoga, in der Schule des Nouveauroman, in Brechts Theater, im sogenannten Panik-Theater - und am Ende hattesie sich gewünscht, wenigstens mit ihren Schülern zu einem Ganzenzu verschmelzen. Was bedeutete, daß sie diese stets zwang, dasselbezu denken und zu sagen wie sie, um mit ihnen im selben Kreis und im selbenTanz ein Herz und eine Seele zu sein." Der Erzähler, Kundera, erinnert sich an die Zeit, als er selbstin einem Kreis tanzte. 1948 war das, in der Tschechoslowakei, mit den geradean die Macht gekommenen Kommunisten. Und dann sagte er etwas falsches, wurdeaus der Partei und aus dem Kreis ausgeschlossen. Bald danach, im Juni 1950sah er die jungen Menschen wieder, die auf den Strassen in Prag im Kreistanzten. Am Tag zuvor hatte man zwei Volksfeinde erhängt, eine Frau,Milada Horáková, die Abgeordente der sozialistischen Partei,und einen tschechischen Surrealisten, Závis Kalandra. Die jungenTschechen, betont Kundera, tanzten, obwohl sie davon wußten, sie tanztennoch leidenschaftlicher weil ihr Tanz "die Manifestation ihrer Unschuld,ihrer Reinheit war, die sich strahlend abhob von der schwarzen Schuldhaftigkeitder beiden Gehängten". Bekanntlich hat André Breton in einem offenen Brief damalsPaul Éluard aufgefordert, gegen das Prager Urteil zu protestieren:Er solle versuchen, den tschechischen Surrealisten zu retten (Kalandra warein Freund von beiden). Éluard aber hatte es (auch öffentlich)abgelehnt, einem Volksverräter zu helfen. Kundera zitiert ÉluardsVerse von der Unschuld und der Liebe und zeichnet in einem Bild den französischenDichter, wie er gemeinsam mit der tschechischen Jugend in einem immer schnellerwerdenden Tanz langsam vom Boden abhebt und über Prag schwebt... "undich erkannte beklommenen Herzens, daß sie wie Vögel flogen, währendich fiel wie ein Stein". Am Ende der Erzählung hebt Madame Rafael ebenfalls vom Bodenab. Vor ihrer Klasse beginnt sie auf einmal zu tanzen, sie erreicht denso lange ersehnten Zustand der Einheit mit ihren Lieblingsschülerinnen- sie heißen übrigens Michaela und Gabriela - und fährtmit ihnen in den Himmel, endlich "im selben Kreis und im selben Tanzein Herz und eine Seele". Mit diesen beiden Bildern stellt Kunderadas dar, was er unter Kitsch versteht. Ein Erlebnis wird zu Kitsch durchdas begleitende Gefühl, daß man es mit der ganzen Menscheit teilt. Kitsch ist eben die Form, in welcher "the society of organizedinnocence", wie die Amsterdamer Agentur Bilwet, eine Gruppe jungerMedientheoretiker, die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften nennt2, ihre Einheit mit derMenschheit erlebt und dadurch auch ihr Verhältnis zum Anderen in derWelt organisiert. Im Kitsch der tatenlosen Solidarität mit den Opfernerschöpften sich die Reaktion des Westens auf den jugoslawischen Krieg.3 Ex-Jugoslawien war in der letzten Zeit mehrfach Gegenstand merkwürdigerVerklärungen. An der Drina suchte ein österreichischer Dichternach dem wahren Leben, in Zagreb fand ein französischer Intellektuellerdie echte europäische Kultur, in Belgrad schließlich entdecktedas westliche Publikum den lebendigen Geist der Demokratie. Die folgendenÜberlegungen fragen nach der Rolle, die der ex-jugoslawische Raum inder symbolischen Ökonomie der westlichen Öffentlichkeit spielt. Sehnsucht nach dem Authentischen:Die Intellektuellen, die Medien und der Krieg Die Medien haben vor dem Krieg in Jugoslawien versagt. Es ist ihnen,so die Agentur Bilwet, nicht gelungen, die Wirklichkeit des Krieges mitder Wirklichkeit der Zuschauer in Verbindung zu bringen: "Alle Menschen,die noch so etwas wie ein Informationsbedürfnis meinten haben zu müssen,zogen den einzig möglichen Schluß aus der totalen Niederlageder Medien: Sie gingen hin, um es mit eigenen Augen zu sehen."4 Es gibt eine Spezies von Augenzeugen, die den Wunsch nach authentischer,unvermittelter, außermedialer Realität in seiner reinsten Formverkörpert - die engagierten Intellektuellen. Es war Peter Handke,der nach Serbien ging, um sich dort mit eigenen Augen der Wirklichkeit zuversichern. Sein Reisebericht Gerechtigkeit für Serbien Was aber treibt den Schriftsteller hinter den Spiegel, was ruft beiihm diesen Zweifel an den Medien hervor? Ein Störfaktor. Handke: "Wowar der die Realitäten verschiebende, oder sie wie bloße Kulissenschiebende, Parasit: in den Nachrichten selber oder im Bewußtseindes Adressaten?" Und einige Seiten weiter antwortet er: "...derParasit ist in meinem Auge."10 Was findet Handke nun hinter dem Spiegel, jenseits der Medien - inder Wirklichkeit? Er beschreibt einen Markt in Serbien und kommt zu demSchluß: "Was aber von solchem Marktleben, (...) am eindrücklichstenhaften blieb, das war, (...) eine Lebendigkeit, etwas Heiteres, Leichtes,wie Beschwingtes an dem (...) Vorgang von Kaufen und Verkaufen. (...) Vondem Wust, Muff und der Zwanghaftigkeit der bloßen Geschäftemachereienhob sich da (...) etwas wie eine ursprüngliche und, ja, volkstümlicheHandelslust ab."11 Der Dichter gräbt in der Wirklichkeit derjugoslawischen Kriegszone jene Schicht des ursprünglichen Lebens aus,die anderswo zugeschüttet ist. Eine so kostbare Quelle muß geschütztund bewahrt werden: "Und ich erwischte mich dann sogar bei dem Wunsch,die Abgeschnittenheit des Landes - nein, nicht der Krieg - möge andauern;möge andauern die Unzugänglichkeit der westlichen oder sonstwelchenWaren- und Monopolwelt."12 Hier gilt noch eine unverdorbene, "kristallischeAlltagswirklichkeit". Ja, diesem Reservat des authentischen Lebenswird ein heilender Einfluß auf den Rest der verdorbenen Welt zugeschrieben."... vor dem Verlassen der Hauptstadt wurde es Zeit zum ersten Tankenin diesem, laut Volksmund, 'Land mit den meisten Tankstellen auf der Welt'- in Gestalt der Kanister- und Flaschenanbieter dichtauf am Rand der Ausfallstraßen.Und auch bei all den Treibstoffkäufen danach hat sich mein erster Eindruckdort erhalten, daß die grünrotgrüne dicke Flüssigkeit,wie sie in der Tat ja auch war: etwas ziemlich Seltenes, eine Kostbarkeit,ein Bodenschatz - und wieder hatte ich gar nichts einzuwenden gegen meineWunschvorstellung, solch eine Art Tanken möge lang noch so weitergehandhabtwerden, und vielleicht sogar übergehen auf anderer Herren Länder."13 Die Wirklichkeit, die Handke durch seine kulturkritisch motivierteUmgehung der Medien erreicht hat, ist nichts anderes als die phantasmatischeKonstruktion eines reality parks14, der als Gegenbild zur westlichen Dekadenzdienen soll. Das Engagement von Peter Handke unterscheidet sich in seinem Wesenkaum von jener intellektuellen Intervention in die Wirklichkeit des jugoslawischenKrieges, die Alain Finkielkraut unter der Parole "Gerechtigkeit fürKroatien" im Herbst 1991 eingeleitet hat. Der französische Philosophund Schriftsteller engagierte sich auf der kroatischen Seite erst, nachdemer den Krieg unter einem ursprünglichen, sozusagen metahistorischenParadigma interpretiert hatte: Dort wo die europäische Öffentlichkeitin der Kakophonie der Informationen wie gelähmt auf das Chaos starrte,sah er plötzlich, jenseits aller Politik und Ideologie, eine Urszene:Ein Täter ist auf sein Opfer losgegangen, die bis an die Zähnebewaffneten Serben haben die hilflosen, friedlichen Kroaten angegriffen.Jetzt war die schwierige Frage des Engagements auf der richtigen Seite kinderleichtzu beantworten. Alain Finkielkraut wurde von den Kroaten zu ihrem Lord Byron erklärt.Wie dieser seinerzeit dem griechischen Volke in seinem Unabhängigkeitskampfgegen die Türken beistand, so unterstützt heute jener ein europäischesVolk in der Verteidigung seiner kulturellen Identität gegen barbarischeEroberer. Daß der Krieg am besten als Kulturkampf zu erklärensei, darauf haben sich sowohl die Akteure als auch die engagierten Intellektuellengeeinigt. In einem Interview sagte Finkielkraut offen: "Europa erkennt,daß sich die Serben wie Barbaren benehmen, aber es denkt nicht darübernach, warum das so ist. Europa will nicht wissen, daß Slowenen desGermanismus und Kroaten des Latinismus bezichtigt werden und daß dieserGermanismus und Latinismus in den Augen ihrer Feinde als Verrat der slawischenSache erscheint. All das, der ganze kulturelle Hintergrund des Konfliktsist von oben herunter ignoriert worden."15 In einer improvisierten Vorbemerkung zu seiner im Dezember 1991 imRektorat der Zagreber Universität vorgetragenen Rede erzählteFinkielkraut, wie er in Kroatien einige Intellektuelle getroffen habe, daruntereinen Maler und einen Dichter, und im Gespräch mit ihnen die "europäischeSeele" berührt habe. Malerei und Dichtung seien hier ein Teilder Alltagskultur des Landes, und damit sei Zagreb, neben Prag, einer derseltenen Orte, an dem diese europäische Seele in ihrer authentischenForm überlebt habe. Die Urszene eines von jeder Geschichtlichkeit, von jeder kulturellenbzw. politischen Bedingtheit ungetrübten Täter-Opfer Verhältnisses16dient hier als ultima ratio eines intellektuellen Engagements, das ein Effektdes westlichen, vorübergehend in die Kriegszone verlegten Kulturkampfesist, das sich also nicht auf den wirklichen Krieg mit seinen Opfern undTätern einläßt. Die blutige Dornenkrone auf der Stirn deskroatischen Märtyrers hat Finkielkraut erst erkannt, als er sie gegendas Lorbeerkränzchen des Dichters austauschte. Das Chaos des jugoslawischenKrieges, das die Medien nie durchschaut und in das sie sich selbst verwickelthaben, hat erst einen Sinn bekommen, als im Golgatha des Krieges der authentischeeuropäische Parnaß erblickt wurde.17 Das wahre intellektuelle Engagement gilt für Finkielkraut -wie für Handke - nicht einer fremden Wirklichkeit, die zu erkennenund zu verändern wäre, sondern dem eigenen gesellschaftlichenKontext, der als Schauplatz eines entscheidenden Kulturkampfes verstandenwird. Das authentische Europa soll gerettet werden - vor seiner eigenenDekadenz. Und nichts trägt in den Augen der engagierten Intellektuellenso sehr zum Verfall der europäischen Werte bei wie die modernen Medien.Sie sind es, die die Menschen ihrer Authentizität berauben. Der entwurzelte(und verkabelte) dekadente Europäer versteht nicht mehr, daßes noch die "Eingeborenen" gibt, die sich einer "Geschichte,einem Boden, einer Gemeinschaft verbunden fühlen".18 In seiner scharfen Kritik an Susan Sontags Engagement in Bosnien19wirft Jean Baudrillard der New Yorker Intellektuellen vor, nach Sarajevogekommen zu sein, um ihren westlichen Realitätsverlust zu kompensieren.Was dem Westen am meisten fehle, sei eben Wirklichkeit, und die besorgesich die Sontag in Sarajevo als in einer Art blutigem Realitätspark.Das Schlimmste, was sie sich als Protagonistin des Westens zuschulden kommenließ, sei ihre herablassende Haltung und völlige Fehleinschätzungder Kräfteverhältnisse: "Sie nämlich sind die Starkenund wir sind die Schwachen, die wir dort in Bosnien ein Heilmittel gegenunsere Kraftlosigkeit und unseren Realitätsverlust suchen."20 Wie bei Handke wird der dekadente Westen der vitalen Kriegszone gegenübergestellt.Und wiederum sind es die Medien, denen es nicht gelungen ist, die Wirklichkeitdes authentischen Lebens zu erfassen - im Gegenteil. Sarajevo ist fürBaudrillard eine hyperreale Hölle, ein sinnloser, das heißt außergeschichtlicherPlatz. Susan Sontag theatralisiert und inszeniert diese Situation fürdas Theater der westlichen Werte, zu denen auch die Solidarität gehört.Baudrillard gesteht ihr nur eines zu - daß sie, durch ihre Aktion(und durch das Theater als Kulturmedium) dort weitermacht, wo die Mediengescheitert sind - nämlich die Wirklichkeit des Krieges mit der Wirklichkeitdes westlichen Lebens in Verbindung zu setzen. Es sind nicht nur die Medien gescheitert, in ihrem Versuch die Ereignisseam Balkan zu erfassen. Gescheitert sind auch die Intellektuellen mit ihremVorhaben, im Außermedialen zu rekonstruieren, was den Medien abhandengekommen ist. Die Sehnsucht nach dem Außermedialen ist ein Symptomdes intellektuellen Unbehagens an den Medien und an der postmodernen Welt,in welcher die Intellektuellen ihre alte Rolle für immer verloren haben. Bei allen, die intellektuell einigermaßen sensibel sind, mußtedie Art und Weise, wie die westliche Öffentlichkeit auf die BelgraderDemonstrationen 1996/97 reagiert hat, tiefes Unbehagen hervorrufen. Wasfür eine "Schubumkehr"! Seit Jahren hatte man auf das balkanischeSchlachthaus heruntergeschaut als auf eine hoffnungslose Mißgeburtder Zivilisation. Mit Sprüchen wie "alles Tiere, die reinstenBarbaren" (Jacques Chirac) oder "alles Kannibalen" (ein Vertreterdes Foreign Office)21 - gaben Politiker Leitmotive vor, die von den Medienbereitwillig aufgegriffen wurden. Die Verachtung traf vor allem diejenigen,denen man die Hauptschuld am Krieg zuschrieb, - die Serben. Es schien, alswürden sie ihr Stigma der bad guys nie wieder loswerden. Nur zögernd ließen sich hier und da Stimmen vernehmen,die Skepsis gegenüber diesem simplifizierten Bild anmeldeten und esdurch medienkritische Analysen störten. Dem Gruppenbild der Kriegsparteienmit serbischem Verbrecher im Vordergrund, das Messer zwischen den Zähnen,konnte dies aber nichts anhaben. Es schien ein für allemal in die Köpfeeingebrannt. Und dann die Demonstrationen in Belgrad und anderen StädtenSerbiens. Über Nacht ändert sich der Ton in den Medien: "Dasist seltsam. Denn was wir jetzt in Belgrad erleben, ist fast ein Wunder.Kaum vom Fieber des Nationalismus genesen, (...) erhebt sich das Volk plötzlichkraftvoll gegen den Tyrannen."22Statt kalter, verachtungsvollerDistanziertheit auf einmal warme, sich einfühlende und identifizierendeBegeisterung. Man denkt, endlich verstanden zu haben, worum es auf dem Balkangeht: "Es geht schlicht und einfach um Freiheit und Demokratie. (...)Die Demonstrationszüge der Serben - im nationalen Klischee kriegslüsternePrimitivlinge und balkanesische Barbaren - bewegen sich nicht anders alsDemonstrationen in Paris, Prag, New York oder London. Die kulturellen undhistorischen Spezifika, mit denen Heerscharen von Wissenschaftern und Kommentatorendie Aggressivität der Serben im Krieg erklärten, scheinen wieweggeblasen zu sein."23 Wie war das möglich? Wie kam es zu diesem plötzlichen Umschwungvon barbarischer Verfinsterung zum Licht der modernen demokratischen Kultur?Ein Umstand ist hier von besonderer Bedeutung: Das Wunder geschah vor allemfür die und in den westlichen Medien; es war eine Sache der westlichenZuschauer, die die Ereignisse auf dem Balkan von außen beobachteten. Mit dieser Konstellation hat sich der slowenische Philosoph RadoRiha auseinandergesetzt24, und zwar ausgehend von der Interpretation deszweiten Abschnitts des Streits der Fakultäten von Immanuel Kant, inwelchem das Phänomen der Geschichtlichkeit an den Prozeß derMediation geknüpft wird: Zur Wahrheit eines geschichtlichen Ereignissesgehören demnach nicht nur die Handelnden, die sich mitten im Geschehenbefinden, sondern auch die Außenstehenden, die das Ereignis passivbeobachten. Denn für Kant erlangt ein Ereignis den Charakter des Geschichtlichendadurch, daß in ihm "das Fortschreiten zum Besseren" erkanntwird, und zwar nicht im individuellen Sinne, sondern im Sinne einer "Tendenzdes menschlichen Geschlechts im ganzen".25 Aus einer "Begebenheit",wird dann, wie Kant sagt, ein "Geschichtszeichen". Ob dies abergeschieht, liegt nicht an den Taten oder Untaten der Akteure, durch die"gleich als durch Zauberei, alte glänzende Staatsgebäudeverschwinden, und andere an deren statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen.Nein: nichts von alledem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer,welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlichverrät". Die Reaktion des Publikums ist das, was über diegeschichtliche Wahrheit eines Ereignisses entscheidet, und zwar die in allgemeinerSympathie ausgedrückte Parteilichkeit - jene "Teilnehmung demWunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt". Für Kant war esdie französische Revolution, die bei den Zuschauern eine solche Begeisterunghervorgerufen hat. Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, sind esdie Ereignisse, die das Ende des Kommunismus markieren: Vom Fall der BerlinerMauer über die "Samtene Revolution" in Prag bis zu den blutigenGeschehnissen in Rumänien - das westliche Publikum brachte all diesenBegebenheiten Sympathie entgegen und spendete reichlich Beifall. Anders jedoch beim Zerfall Jugoslawiens und dem darauf folgendenKrieg. Hier war keine Sympathie zu spüren, nichts war zu finden, mitdem das "äußere zuschauende Publikum" sympathisierenkonnte, kein "Fortschreiten zum Besseren" als "Tendenz desmenschlichen Geschlechts im ganzen" den Ereignissen zu entnehmen. Unddementsprechend kein Enthusiasmus bei den Zuschauern, ihre Gemüterblieben kalt.26 Was das westliche Publikum an 1989 so begeistert hatte, war allerdingsnicht einfach die "Rückkehr" der Osteuropäer zu denim Westen bereits verwirklichten Idealen der Demokratie. So naiv ist esnicht - die Mängel des liberal-demokratischen Systems sind ihm wohlbekannt,und es unterhält ihm gegenüber ein eher nüchternes Verhältnis,oft sogar eine ironische oder zynische Haltung. Das wahre Objekt des Enthusiasmuswar vielmehr "... eine unterstellte vorbehaltlose Faszination der osteuropäischenAkteure durch die westliche Demokratie, ihr naiver, sozusagen blinder Glaubenan sie."27 Und genau dieses Moment fehlte im Falle Jugoslawiens. Dem Handelnder dortigen Akteure war keine solche Faszination zu entnehmen. Es schien,als werde das Drama des Zerfalls des kommunistischen Jugoslawien nach eigenenRegeln gespielt, ohne Rücksicht auf die Reaktionen des (westlichen)Publikums. Die Hauptdarsteller auf der Bühne der Geschichte setztenihr Spiel auch dann noch fort, als die westlichen Buh-Rufe schon sehr lautgeworden waren, bis es dann zu einem offenen Zwiespalt in der Wahrnehmungder Ereignisse gekommen ist. Der begriffliche Ausdruck dieses Zwiespalteshieß Nationalismus. Was in den Augen der westlichen Medien zur realenTriebkraft hinter jeder politischen Handlung im ehemaligen Jugoslawien wurde,war für die Akteure selbst zunächst kein Problem. Sie haben ihrenNationalismus als ihr gutes demokratisches Recht betrachtet. Der Westensah in seinem Ausbruch - verständlicherweise - eine gefährlicheBedrohung für die Errungenschaften der liberalen Demokratie. Den Ereignissen, die den Zerfall Jugoslawiens begleitet haben, waralso kein Geschichtszeichen zu entnehmen. Es ist dort nichts passiert, andem die westlichen Medien (als jener Blick des Kantischen Zuschauers) "ihremWunsch nach" hätten teilnehmen können. Im Falle der BelgraderDemonstrationen hingegen war dieser Wunsch da. Der Nationalismus als Hauptstörfaktorließ sich relativ schnell ausschalten: "Aber die jetzigen Anti-Milosevic-Demonstranten,vor allem die Studenten, treibt nicht Chauvinismus auf die Sraße.Als im Dezember westliche Medien sie als nationalistisch denunzierten, reagiertendie Hochschüler schnell: Die serbischen Fahnen, die zuweilen mitgetragenwurden, verschwanden, und es tauchten ebenso US- und EU-Flaggen in den Demonstrationszügenauf wie Embleme anderer europäischer Länder."28 Die BelgraderStudenten lernten erstaunlich schnell. Blitzartig wechselten sie ihre Emblemedem Wunsche der westlichen Medien entsprechend. Jeder mögliche Störfaktorwird vor dem medialen Blick des Westens sofort entfernt. Man ist von derLernfähigkeit der Studenten einfach begeistert. Sie sind "...gelehrige Schüler westlicher PR-Methoden. (...) Sie surfen im Internet,kommunizieren mit BBC und der New York Times, schicken Faxe an Jelzin undClinton. Eine 'wunderbare Schule' nennt der Soziologe Aleksa Djilas diesepro-westliche Multimedia-Bewegung."29 Endlich konnte man sich mit den Serben vorbehaltlos identifizieren.Und zwar deshalb, weil man in der serbischen Gegenwart seine eigene ruhmhafteVergangenheit wiedererkennt. In Belgrad ist heute alles "wie damalsbei uns": "Der 'Protest 96' ist Serbiens 68er-Bewegung."30;"Es ist eine verspätete Revolution, die wie eine Kombination aus1968 und 1989 aussieht, eine dezidiert pro-westliche Bewegung..."31."Wie damals in Leipzig", betitelte die Süddeutsche Zeitungihren Bericht über den Besuch einer Ex-DDR-Bürgerrechtlerin beider Belgrader "Spaß-Demonstration": "Schon reicht jemandMarianne Birthler, die einst half, die DDR aus den Angeln zu heben, einMikrophon. Sie atmet kurz durch und sagt, 'Beharrlichkeit, Mut, Solidaritätund Phantasie' könnten Berge versetzen. Auch in der DDR habe im Mai1989 alles mit den Protesten gegen die gefälschten Kommunalwahl-Ergebnissebegonnen. Ein halbes Jahr später sei die Berliner Mauer gefallen. DieBotschaft kommt gut an. Nach dem Auftritt gibt es langen Beifall fürBirthler und ihre Freunde. Eine Frau kauft schnell einen Strauß gelberMimosen und drückt sie der Berlinerin in den Arm."32 Mit diesen gelben Mimosen fing die Liebe endlich an. Mit ihnen habensich die Serben zu Europa bekannt und sind gleichzeitig von diesem Europaals Europäer anerkannt worden. Auf diese Weise wurden nicht nur dieSerben als Nation, sondern auch der Zerfall Jugoslawiens symbolisch in dieeuropäische Geschichte reintegriert und dort dem Kapitel "Diedemokratische Revolutionen von 1989" als Postscriptum einverleibt. Die enthusiastische Identifikation der westlichen Medien mit denBelgrader Demonstrationen entwickelte eine eigene Dynamik, die in der durchdie Medien konstruierten Wirklichkeit gefangen bleibt. Im Dezember 1996veröffentlichte die New York Times einen Artikel ihres EuropakorrespondentenChris Hedges, in dem er behauptete, die Studentenbewegung sei "vonradikalen serbischen Nationalisten" dominiert. Diese Behauptung läßtsich von angesehenen serbischen oppositionellen Kreisen belegen, die nieeinen Kompromiß mit den serbischen Nationalisten eingegangen sind.Eher nüchtern sehen sie in den Belgrader Demonstrationen keinen qualitativenSprung im politischen Bewußtsein der Massen, sondern nur einen Ausbruchder Frustrationen, der endlich die allgegenwärtige Angst überwundenhat.33 Aber es ist diesen Stimmen nicht gelungen, sich in der Öffentlichkeit,insbesondere in der westlichen, Gehör zu verschaffen. Statt hinzuhören,produzieren die westlichen Medien lieber ihre eigene Augenzeugenschaft.Ein Korrespondent der Weltwoche war am Tatort: "Tatsächlich binauch ich bei all meinen Gesprächen nie auf unangenehme chauvinistischeTöne gestoßen. Ihre Graffiti sind anderer Natur, wie etwa: 'SelbstBlondinen haben gemerkt, daß es so nicht weitergehen kann.'"34 Es hätte keinen Sinn, in der Medienwirklichkeit weiter nachdem primitiven, blutdürstigen serbischen Chauvinismus zu suchen. Erwohnt nicht mehr dort. An seinem Platz findet man nur noch global verständlicheStereotypen. So beruhigt, kann der westliche Augenzeuge aus Belgrad dieerfreuliche Nachricht schicken: "Selbst die Serben haben gemerkt, daßes so nicht weitergehen kann."
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Anmerkungen 1 In: Das Buch vom Lachen und Vergessen, Frankfurta.M. 1982. 2 Organized Innocence and War in the New Europe,Lecture for ISEA, September 20, 1995, Montreal, Canada. 3 "Wie schön ist es doch, gemeinsammit der ganzen Menschheit von einem auf einer Straße Sarajevos abgeschlachtetenKind gerührt zu sein" (Renata Salecl, nach Slavoj Zizek, Geniessedein Opfer!), in: Lettre International 26, 1994. 4 Agentur Bilwet, Der Daten Dandy, Mannheim1995, S. 183. 5 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu denFlüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien,Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996. 6 Vgl. Agentur Bilwet, Medien-Archiv, Bensheim/Düsseldorf1993, S. 144. 7 Ebd., S. 13. 8 Ebd., S. 30. 10 Ebd., S. 32, 42. 11 Ebd., S. 71f. 12 Ebd., S. 72. 13 Ebd., S. 88. 14 Vgl. "Fernsehen im RealitätsparkRomania", in: Medien-Archiv, a.a.O., S. 203 15 In: Kommune, 6/1992. 16 Vgl. Slavoj Zizek, Geniesse dein Opfer, in:Lettre International, Nr. 24, 1994. 17 Vgl. Boris Buden, Philosophie und Krieg.Finkielkraut in Zagreb, in: Literatur und Kritik, 261/262, Februar 1992. 18 Alain Finkielkraut, Wer will denn schon Kroatesein?, in: Frankfurter Hefte 12/93. 20 Kein Mitleid mit Sarajevo, in: Lettre International,Nr. 31, 1995. 21 Vgl. David Rieff, Die Pilatus-Taktik, in:Lettre International Nr. 31, 1995. 22 Georg Hoffmann-Ostenhof, Gerechtigkeit fürSerbien, in: Profil Nr.3, 13.01.1997, 23 Ebd. 24 Rado Riha, Kant in praktischer Absicht, in:Filozofski Vestnik 2/1992, Ljubljana. 25 Immanuel Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie,S. 183 ff., Stuttgart 1974. 26 Nichts drückt diese Einstellung desPublikums besser aus, als die Worte Marion Gräfin Dönhoffs unterder Schlagzeile "Kopflos in das Chaos?" auf der Titelseite derZeit im September 1991: "Es wäre Wahnsinn, sich aus freien Stöckenmilitärisch in dieses balkanische Chaos einzumischen. Heller Wahnsinn.(...) Aber wenn sie denn ihren serbokroatischen Haß unbedingt auslebenwollen, dann sollte man sie eben lassen." 27 Riha, a.a.O., S. 153. 28 Georg Hoffmann-Ostenhof, Nachgeholte Revolution,in: Profil Nr.7, 10.02.1997. 29 Bernhard Odehnal, Slobo, wir lieben uns!,in: Profil Nr. 1/2, 7.01.1997. 30 Ebd. 31 Hoffmann-Ostenhof, in: Profil, a.a.O. 32 Christiane Schlätzer in der SüddeutschenZeitung 25/26, 1997. 33 Vgl. Arkzin 83/1997, Zagreb. 34 Hanspeter Born, Unsere Waffen: Lärm,Gelächter, Farben, in: Die Weltwoche Nr. 4, 23.01.1997. | |