| Exegimonumentum... | |
Vor kurzem war in einer kroatischen Tageszeitung eine Reihe von vierPhotos zu sehen. Auf dem ersten Photo erkannten wir jenen ehemaligen AußenministerKroatiens, der seinen verantwortungsvollen Posten in der heroischen Zeitder neuen kroatischen Diplomatie, zum Zeitpunkt der internationalen Anerkennungder Republik Kroatiens, innehatte. Man sieht ihn im weißen Hemd mitaufgekrempelten Ärmeln stehen, mit einem Hammer in der Hand, nebeneinem mannshohen Block aus weißem Marmor, umgeben von applaudierendenZuschauern. Auf dem zweiten und dritten Photo ist der Ex-Minister in action.Mit Hammer und Meißel hebt er an, auf den Stein zu schlagen. Die Poseist statisch, der Ex- Minister schaut nicht auf das, was er tut, sonderner starrt durch das Auge der Kamera auf uns, auf die Öffentlichkeit.Die lachenden Menschen, die ihn umringen, applaudieren weiter. Obwohl jetztschon klar ist, daß die Szene die symbolische Handlung des "erstenMeißelschlages" für das künftige Denkmal darstellt,zeigt erst la nature morte des vierten Photos das Wichtigste. Neben demSteinblock befindet sich eine Tafel mit der Photographie des ehemaligenAußenministers der BRD, Hans Dietrich Genscher. Also, in einem kleinenOrt auf einer Adriainsel geht man daran, dem deutschen Ex-Minister ein Denkmalzu errichten. Der Grund sollte allen bekannt sein. Die Verdienste des HerrnGenscher für die Anerkennung Kroatiens sind unbestritten. Es wird einDenkmal für ihn, für Deutschland und letztendlich auch fürEuropa sein, das, durch die kühne Entschlossenheit gerade dieses weitsichtigenund weisen Herrn angeregt, den tausendjährigen Traum der Kroaten, ineinem selbständigen Staat zu leben, erfüllt hat. Und wer hätteihnen Dankbarkeit vorenthalten können? Aber diese vier Aufnahmen sind auch die ersten Ausschnitte einesuns wohlbekannten Filmes. Eines, den wir in unzähligen Versionen inunserem Vorleben, in den sogenannten dunklen Zeiten des Sozialismus, bevordie neue Demokratie uns gerettet hat, zum Überdruß gesehen haben.Noch immer haben wir die Bilder der Politiker von damals nicht vergessen,wie sie mit dumm verlegenem Lächeln, in ungeschickt steifer Haltung,wie alle schlechten Poseure, die ersten Spatenstiche auf Baustellen derAutobahnen geben, die nie vollendet wurden, bei der Grundsteinlegung derFabriken, die Verluste produzieren und Vollbeschäftigung simulierenwerden, und bei der Denkmalsenthüllung für jene, die füreine bessere Zukunft gefallen sind, die Zukunft, die durch diese Initiationsritualedes Neuen in eine trübe Gegenwart umgewandelt wurde. Sie waren wiejene Hebamme, die zwischen die Beine einer hysterischen Frau späht,welche sich in den Krämpfen ihrer Scheinschwangerschaft windet, unddie Hände dem fiktiven Kind entgegenstreckt. Überflüssig,lächerlich und vulgär. Im Laufe der Zeit aber entwickelten wirgegenüber ihren Ritualen eine ganz gesunde ironische Distanz. Und mitihr hat das Leben eine gewisse Normalität errungen. Wir haben schonlange aufgehört, sie ernst zu nehmen, und auch sie haben das von unsnicht mehr gefordert. Die neuen Machthaber von heute sind aber wieder tödlich ernst- wie es sich für jene ziemt, welche das Neue aus den Qualen des Kriegesentbinden. Selbstbewußt und stolz sind sie, denn sie kommen nichtmit leeren Händen. Vor dem neuen Idol, vor Europa, dem Symbol des Glücksund des Wohlstands, der Wahrheit und des Rechts, bringen sie ihr Opfer.Durch das Blut ihrer jungen Helden haben sie die eigene Sünde abgewaschenund den neuen Gott gesättigt. Und bauen ihm jetzt in der Gnade verdienterAnerkennung ein Denkmal. Rollen wir den Film zum ersten Bild zurück, bevor er sich insbereits Bekannte abspult, und bleiben wir vor diesem Steinblock stehen,bevor der Meißel angesetzt wird. Werfen wir einen Blick auf dieseSzene, auch wenn sie nur ein Bild unter anderen Zeitungsbilder ist, eineNachricht unter anderen Nachrichten aus der kroatischen Alltäglichkeit.Und wir werden sehen, wie sie zur Bedeutungslosigkeit abschrumpft, nebenFrontberichten, Erfahrungen der bosnischen Lagerinsassen, Gerichtsnotizenvon Verhandlungen über abwesende Kriegsverbrecher, die weder durchGesetz, noch durch Flüche einzuholen sind; wir werden diese Photoreiheumgeben von Bildern massakrierter Menschen sehen, ganzer Städte inFlammen, und noch gestern gefallener Kämpfer; und jetzt, wenn dieserQuader aus weißem Marmor noch bloße abstrakte Möglichkeitist, bevor er sich in die trivialle Figuralität eines Denkmals verwandelt,wenn er nur noch ein Steinblock aus unserer endlosen Klagemauer ist. Undwenn dieser Krieg noch ein chaotischer Haufen von Trümmern, Leichenund überrealen menschlichen Schicksalen ist, bevor er auf jene paarSätze zusammenschrumpft, die sich unter einem episodischen Titel imverborgenen Winkel eines Geschichtslehrbuches verstecken werden, und welcheselbst die fleißigsten Streber in den ruhmhaften europäischenGymnasien nie dort finden werden - jetzt vielleicht können wir nochdie Wahrheit offen sagen: Dieses Europa, dem wir ein lächerliches,kleines Denkmal bauen, liebt man hierzulande nicht. Und diese Abneigunggegenüber dem blutrünstigen Idol, diese noch unartikulierte Abscheuin der Stufenleiter von einfacher Enttäuschung bis zu affektiven Fingerzeigenauf den allein schuldigen für unser ganzes Elend - das allein scheintin uns noch gesund und normal zu sein. Wenn wir mit diesem subversievenGefühl einen Blick auf unsere neuen Machthaber werfen, wie sie Europadieses Denkmal bauen, werden wir in ihnen jene alte Priester des Neuen sehen,die nur das Alte perpetuieren. Wir werden sie sehen, wie verachtenswertin ihrer Servilität und langweilig in ihrer Aufdringlichkeit sie diesemEuropa sind, und wie überflüssig, lächerlich und vulgärsie uns sind, mit deren Elend sie Europas Gnade kaufen wollen. In dieser Abneigung gegen Europa liegt ohne Zweifel unsere Rettung,aber auch unser Verhängnis. Heute nämlich mit der Erfahrung diesesKrieges, der noch immer in uns und um uns wütet, enttäuscht vonEuropa sein, das kann man nur in einer altbekannten Weise. Unsere ohnmächtigeWut und, durch sie vergiftet, unser Verstand können nichts Neues jenenschweren Worten zufügen, welche schon andere Europa ins Gesicht geworfenhaben. "Europa rührt sich heute mit seinen Kanonenröhren,pneumatischen Rädern, Benzinkannen und Philosophien wie ein traurigesGespenst, das zwischen den warmen tropischen Fernen und der nebeligen eisigenNordsee gar nicht weiß, was es anfangen, was es richtig anfassen,und auf welchen Weg es sich machen soll, im Schreck vor seinen eigenen Spuken,im Widerspruch mit seinen intimen Lügen, reich wie noch nie in seinerGeschichte, aber leer und fad wie eine abgespielte Schallplatte.",schrieb im Jahre 1933 Miroslav Krleza. Er sah Europa in sich selbst gespalten.Alle seine Errungenschaften, alle seine angehäuften Reichtümer,seine Kultur des Alltagslebens, seine moralischen Prinzipien und religiösenGlauben verlieren für ihn jede Bedeutung beim Anblick jener Millionenvon Gräber zwischen Karpaten und Rhein, die der erste Weltkrieg hinterlassenhat. In diesem Frühjahr 1933, als er in einer europäischen Metropoleeine militärische Parade beobachtet, ein Defilee der Kriegsmaschinerie,Kavallerieschwadronen und Infanteribataillone beim Trompetenklang und Trommelschlagin der Atmosphäre des Volksfestes, wenn er "dieses junge, nochimmer gesunde und siegreiche Europa, das sich im Kosmos auf seinem weißenund wütenden Stier bewegt, wie der Herrscher über Gletscher undüber weiten Kontinente" sieht, weiß er, daß es sichin eine neue Kriegskatastrophe stürzt, und daß er dieser seinenLogik gegenüber vollkommen ohnmächtig ist. Er spottet überdieses Europa, das sich den Kopf über die Begriffe des Guten und desBösen, über die Fragen des Absoluten und des Relativen zerbricht,das alle Kräfte seiner Vernunft anspannt, um zum Ding an sich durchzubrechen,und gleichzeitig im Rhythmus einer gemeinen Kindertrommel marschiert. Europaist für Krleza auch eine Affenschwester, die in ihrer kannibalischenSelbstliebe und tierischer Raubgier "immer bereit ist, die eigenenarchimedischen Kreise zu verwirren und in ihren tierischen Urzustand mindestenseinmal in zehn Jahren zurückzufallen". Das, was Krleza im 1933 klar wird, und was eigentlich allen schonlängst klar ist, bestätigt nur die Tatsache, daß kein kulturellerFortschritt und keine Leistung der Vernunft den europäischen Menschenvor dem Rückfall ins Tierische und vor dem Gesetz des Stärkerenschützt. Unschuldig, und trotzdem ausgespuckt, beraubt, niedergebranntund abgeschlachtet zu sein, und zwar in der Anwesenheit der schweigendenMenge, die halblaut etwas über Menschenrechte und Nächstenliebevor sich hinmurmelt, all das war und ist noch immer etwas sehr Europäisches,ein typisch europäisches Schicksal. Das wußte Krleza, und das weiß der kleine europäischeMensch, der sich heute in einem Keller in Sarajevo versteckt, und dort daraufwartet, in dieser Arena der heutigen europäischen Geschichte vor einemMillionenpublikum als erstklassige Medienatraktion durch eine Granate zerstückelt,exekutiert zu werden nach dem Gesetz des Stärkeren, an dessen Existenzniemand mehr glaubt, dessen Konsequenzen aber alle anerkennen. Dort in diesemKeller ist der Widerhall vom ganzen Medienlärm, vom ganzen Rumor europäischerdiplomatischer Konferenzen und vom ganzen Getue feierlicher Spendenveranstaltungennicht lauter als das Geklingel jener Münze in der Almosenbüchse,mit der seit jeher das reine europäische Gewissen als die billigsteWare gekauft wurde. Selbst die europäische Vernunft in der Gestalteuropäischer Philosophen und Intellektuellen hat diesem Menschen imKeller nichts mehr zu sagen. Ihm ist nämlich völlig gleichgültig,wie die Polemik ausgehen wird, zwischen denjenigen, die ihm helfen wollen,die aber hinter den Ideen stehen, die ihn töten, und denjenigen, dieihm nicht helfen wollen, weil sie auf den für ihn rettenden Ideen bequemliegen. In der letzten Konsequenz ist es diesem Kellermenschen auch egal,ob er in einem außergeschichtlichen Kampf der wilden balkanischenStämme stirbt oder seinen Kopf in einer Schlacht verliert, in der überdas Schicksal der europäischen Identität entschieden wird. Wenndieser Verteidiger des belagerten Sarajevo selbst die Illusion hätte,daß er, indem er seine Stadt verteidigt, auch die europäischeZivilisation vor den Barbaren schützt, dann mußte er jetzt, vonallen verlassen, begreifen, daß er diejenige Zivilisation verteidigt,die mit den Worten eines Machiavelli ihre Politikern belehrt hatte, dieVernichtung sei die beste Weise, eine Stadt in eigener Gewalt zu halten.Marodeur, Brandleger, und Schlächter sind typische europäischeBerufe, und diese heutigen Mörder, die Sarajevo belagern sind nur relativsolide Lehrlinge der alten europäischen Meister. In dem Sinne hat sich nichts unter der Sonne geändert. Dasselbe,was Krleza unter dem Titel "Europa heute" 1933 geschrieben hat,gilt unter demselben Titel für das heute belagerte Sarajevo: "Europabelagert sich selbst, Europa tötet sich selbst, unterminiert seineeigene Festung schon Tausende Jahren lang." Diese Erkenntnis entstammtaber der Erfahrung des Opfers, der Erfahrung jener, die den teuersten Preisfür das große Mißverständnis der gegenwärtigenZivilisation mit dem Leben bezahlen mußten. Ein Journalist, Zlatko Dizdarevic, der schon fünf Monate seineBerichte aus dem Sarajevo-Inferno schickt, schrieb vor kurzem: "Vielbrauchten wir, um zu erfassen, warum wir den Tieren geopfert worden sind.Darum, weil jemand irgendwo beschlossen hat, daß dieses tierischeKonzept eines einfarbigen Rudels, in dem alle die gleiche Sprache sprechen,durch eine und dieselbe Währung denken, und an denselben Gott glauben- siegen muß. Wir haben eigentlich kein Mandat bekommen, um zu überleben.Wir haben kein Mandat, um mit dem eigenen Beispiel die Vereinbarung jenerin Frage zu stellen, die den prächtigen Wahnsinn der gemischten Genenicht ertragen können. Und darum geht es also. Deswegen ist es dumm,auf die Hilfe von außen zu warten. Alles, was wir brauchen, und waswir für die letzte Schlacht ansammeln können, müssen wirin uns suchen und in uns finden. Koste es, was es wolle!" Diese Geste des aufrechten Sterbens ist noch immer durch die edlemoralische Eleganz und durch die Erhabenheit der Menschenwürde geprägt.Darin ist weder Haß noch Resignation. Der zum Tode Verurteilte hatden Beamten der Großen Ordnung, die ihm die Erfüllung des letztenWunsches anbieten, den Rücken gekehrt. Sie sind nervös und siedrängen den Henker, denn sie wissen, daß sich diese Ruhe schonim nächsten Moment in die aufrührerische Wut der Empörungwenden kann. In der Erfahrung des Verurteilten ist der Aufruhr schon reif,zeugt sie doch nicht von einem zufälligen Unglück in der Menschengeschichte,sondern bringt die universale Wahrheit aller jenen, die die Geschichte nurals ihr Opfer erfahren haben, und die an ihren Rändern nichts als bedeutungslose,anonyme Spuren hinterlassen haben, ans Licht. Deswegen ist es möglich,daß man im Schicksal des sterbenden Verteidiger von Sarajevo auchdie vergessene Wahrheit des toten Trojaners erfährt, nämlich dieWahrheit, die ausgelöscht werden mußte, um den Platz füreine andere, bessere Wahrheit zu schaffen - für die altbekannte Geschichtevon der schönen Helena. Und noch heute schwebt über den Trümmernvon Troja dieses Epos als Denkmal der glorreichen europäischen Geschichte.Die unbekannten Opfer dieser Geschichte haben aber ihre eigene Wahrheitund ihr eigenes Denkmal. Sie liegen im ungeheuren Haufen von Trümmernbegraben, den dieses Europa hinterläßt. Aus der Perspektive des Opfers gäbe es also keinen Sinn, demheutigen Europa Denkmäler zu errichten. Ebenso wenig hat es einen Sinn,über das Schweigen Europas und seine Untätigkeit zu klagen. Geradewenn es scheint, daß Europa nichts tut, sieht sein Opfer, wie sichEuropa ein Denkmal baut. Und selbst, wenn Europa schweigt, sein Opfer hörtes reden. Dieses Röcheln der Sterbenden, das heute aus Sarajevo zuhören ist, es ist die Stimme Europas, die der Welt zuruft: Exegi monumentumaere perennius - Ein Denkmal habe ich mir gesetzt, dauernder als Erz. | |
| Das Buch der Ränder Herausgegebenvon Karl-Markus Gauß Wieser Verlag, Klagenfurt-Salzburg,1992 (S. 365-373) | |