| Kulturbriefaus Zagreb | |
| Literatur und Kritik, 255/256, Salzburg, Juli 1991 | |
Die alten Zeiten, wo Briefe von hierzulande immer eine Einführungim Stile La Yougoslavie expliquée aux enfants enthalten mußten,sind vorbei. Der durchschnittlich eingeweihte Europäer kann, dank dermedienbedingten Aktualität des jugoslawischen Zerfalls, heute schonein wenig differenzieren: er verwechselt Serben nicht mehr mit Kroaten,den jugoslawischen Süden nicht mehr mit dem Norden, ihm sind kulturelle,historische und religiöse Verschiedenheiten wenigstens gerüchteweisebekannt, und er weiß sogar Slowenien von Slawonien zu unterscheiden.Selbst dieses differenzierte Bild Jugoslawiens verstärkt aber nur jeneVorurteile, die Europa immer schon gegen die balkanischen Völker hegte,von welchen Emil Cioran, einer der bekanntesten Süd-Ost-Emigrantensagte, sie wären die einzigen Primitivlinge Europas, zur Verwüstungund inneren Unordnung, zum Leben in einer Welt neigend, die einem Bordellin Flammen gleiche. Indem Cioran den Südosten Europas offen mit demGrauenhaften identifizierte, fragte er sich erstaunt, warum man denn, wennman diese balkanische Welt endlich verlasse und in den Westen ziehe, dochdas Gefühl habe, in einen leeren Raum zu fallen. Daß auch dieser Brief ins Leere fällt, ist ein Gefühl,dem sich sein Verfasser nicht entziehen kann. Verantwortlich ist dafürallerdings keineswegs der unerträgliche Widerspruch zwischen dem barbarischenVitalismus des Balkans und der Beschaffenheit der europäischen Zivilisation,in dem Cioran die Quelle jenes Gefühls gesehen hat. Im allegorischenKontrast zwischen einer sexuell unbefriedigten Dame, die sich in ihrem Reichtumlangweilt, und einem rohen, aber starken Kerl versucht Cioran, die Kluftzwischen Europa und dem Balkan zu überbrücken. Der Fall ins Leereist ein Sprung in den Abgrund eines zwar obszönen und verbotenen, aberdennoch beidseitigen leidenschaftlichen Wunsches. Damit läßtsich heute aber kaum mehr was anfangen; der Balkan ist nicht mit dem Liebhabervon Lady Chaterly gleichzusetzen, und der Mythos von der europäischenDekadenz hat ausgespielt. Woher kommt dann das Gefühl des Leeren? "If there are no beginnings and endings, there are no stories",schrieb Virginia Woolf. Das sollte man im Sinn haben, wenn man die Veränderungenim Osteuropa der letzten Jahre verstehen will. Es geht nämlich nichtnur um das Ende eines politischen Systems, sondern auch um das einer Artdes Lebens, eines Zivilisationstypus. Wo etwas zu Ende geht, hebt doch immereine Geschichte an. Das Beispiel Jugoslawiens zeigt das ganz klar. Im selbenMoment, da es als einheitlicher Staat stirbt, wird eine neue Einheit geboren,die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. An die Stelle der Gesetze,die einmal Leben und Arbeiten der Menschen regelten, treten die Gesetzedes klassischen Dramas. Jugoslawien ist nicht mehr der Name für einenStaat, sondern der Name für einen bestimmten Typus der menschlichenTragödie, für jenen verwunschenen Ort, an dem das Schicksal aufeine besondere Weise ins Leben drängt und aus ihm eine eigenartigeMischung von Angst und Hoffnung, Brutalität und Unschuld, von urdummemSelbstvergessen und gleichsam verklärtem Selbstwiedererkennen macht. Aus Jugoslawien wird so eine Geschichte von Menschen, die zwischender Grundlosigkeit des Verbrechens, das sie begehen, und der Unvermeidlichkeit,mit welcher sie in dieses Verbrechen gleiten, gespannt sind; von Menschenalso, die vor allem unglücklich sind, und zwar auf ihre eigene Weise,indem sie die Kunst nicht beherrschen, ihr eigenes Unglück in ein gewöhnlicheszu verwandeln, in jenes Unglück, das ein Teil der europäischenAlltäglichkeit ist. Der Moment ihres Lebens ist eine stehengebliebeneZeit, in welcher die Erfahrung des Zerfalls, des Endes, kurz: des Todessich verdichtet. Der paradoxe Charakter dieser Erfahrung tritt in der anonymenAussage am klarsten zutage: In einem Radiointerview antwortete eine Textilarbeiterinauf die Frage, wie sie lebe: "Wie eine Tote im Grab." Aus dem Grab geht man nicht in ein neues, besseres Leben, aus demGrab kann man nur rückwärts gehen, nämlich in eine Geschichte.Geschichten beginnen also immer mit dem letzten Satz. Seit kurzem ist ineiner bosnischen Stadt überall ein Graffitti zu sehen: "Kommtzurück, ihr Roten, wir verzeihen euch alles." Es gibt aber keinenGrund zur Panik. Gleich den Rufen, die Eltern durchs Radio ihren entflohenenKindern hinterherschicken, ist diese Parole nur der letzte Satz einer längerenGeschichte, welcher sie nachträglich den Sinn gibt. Erst im Versagender neuen antikommunistischen Herrscher stirbt der Kommunismus wirklichaus. So deutet diese Parole auf wenigstens einen humanen Zug des Kommunismushin: er war sterblich, wie der Mensch sterblich ist. Und es ist überhauptnicht zufällig, daß seine Dauer dem durchschnittlichen Menschenalternahekam. Deswegen kann von ihm eine Geschichte erzählt werden. Kannman aber von der gegenwärtigen demokratischen Zivilisation des Westenseine Geschichte erzählen? Würde diese nicht immer nur zu einerChronik, zu einem endlosen Aneinanderreihen von Geschehnissen geraten? Ja,wenn es um den Westen geht, scheint es, als fehlte uns der erste, fehlteuns der letzte Satz. Der leere Raum, in welchen Cioran den Menschen, der vom Südostennach Westen geht, stürzen sah, ist also die Leere, in welche der Heldeiner Geschichte fällt, wenn er aus ihr in die Wirklichkeit tretenwill. Gerade darin ist das Unglück jener kleinen Völker Südosteuropaszu erkennen, deren Sprachen und Kulturen im Westen heute so mißachtetund ignoriert werden wie sie selbst einst als "unhistorische Völker"abgetan wurden. Das Unglück des Südostens liegt in dem ungeheurenWunsch, so groß werden zu wollen wie die Lieblinge der Weltgeschichte.Eine bösartige höhere Macht wird diesen ihren Wunsch irgendwanneinmal erhört haben. Seitdem wird alles, aber wirklich alles, was dieVölker des Balkans berühren, in Geschichte verwandelt. Kein Wunderalso, daß sie die Wirklichkeit nie kennengelernt haben. Nun ist das Phantasma des ewigen Lebens, auf welchem bekanntlichder Sadismus beruht, dasjenige, was dem westeuropäischen Menschen dasGefühl der Überlegenheit ermöglicht. Er selbst fälltnie ins Leere. Aber vor seinen Augen wird permanent ins Leere gefallen.Das wirkliche Leiden der jetzigen balkanischen Tragödie wird fürden Westeuropäer immer den Charakter des Fiktiven behalten. Fürihn ist das alles nur ein Aneinanderreihen von mehr oder weniger interessantenGeschichten. Welcher Art auch immer diese Geschichten wären, fürden europäischen Menschen haben sie stets ein und denselben Titel:Memento mori. Sie erzählen ihm gerade das, was er gern vergessen will,und darum ist ihm seine Zuschauerrolle auch nicht angenehm: sie erzählenihm, daß er aus Asche ist und zu Asche vergeht. Dieser Brief kommt aus Zagreb, aus der Hauptstadt einer der neuenbalkanischen Zwetschgen-Republiken, wo die zwei europäischen Weltenaufeinandertreffen und die Erfahrung des leeren Raumes immer wieder durchlebtwerden mußte. Es ist also kein Wunder, daß dieser Brief, imLeeren geschrieben, ins Leere fallen muß. Darüber ist nicht zuklagen. Ich und Ihr, wir wissen doch, daß der Postbote immer zweimalklingelt.
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